29.04.2019

 

 

Frau Stern in Hannover

 

Ich muss weg

 

Ostermontag bekommt mein Mitbewohner Besuch. Der ist mit einem Elektrofahrrad aus der Neustadt hierhergekommen. Sie trinken Bier, und ich bin, aus verschiedenen Gründen, derart deprimiert, dass ich mir während seines Aufenthalts eine Flasche Sekt in den Rachen schütte, danach auf dieses Fahrrad steige und mit Karacho (also 25km/h) die Straße runtersause. Ich denke, dass ein Helm ganz gut wäre. Ich denke, dass ich jetzt sterben könnte. Ich denke, dass ich dann deprimiert sterben würde und dass das scheiße ist. Dann denke ich weiter. Was kann ich jetzt tun, um weniger deprimiert zu sein. Was macht mich glücklich? Und was davon ist in greifbarer Nähe? Ich will Kultur. Ich brauche geistigen Input und zwar dringend. Ohne Kinder. Ohne jegliche Begleitung. Alleinsein. Drei Wochen Mutter-Kind-Kur und die anschließenden Osterferien haben mich geschwächt. Ich bin gereizt, ich bin empfindlich, ich bin wütend, ich bin traurig und will einfach nur raus. Aber wohin?

 

Warum Hannover?

 

Weimar ist meine erste Wahl, wenn es um Städtereisen innerhalb Deutschlands geht. Für ein Wochenende wäre die Fahrt jedoch zu lang. Ich will irgendwohin, wo ich noch nie war. Ich überlege, was so in der Nähe ist. Und dann fällt mir ein, dass ich, obwohl ich seit über zehn Jahren in Niedersachsen lebe, noch nie in Hannover war. Noch nicht mal im Zoo. Ich gucke mir Hannover bei Google an, entdecke die Herrenhäuser Gärten und buche fünf Minuten später die billigste Absteige und das günstigste Bahnticket. Mein Wochenendtrip soll nicht über 200 Euro liegen, mit allem Drum und Dran.

 

Hannover Tag 1

 

Freitag Abend um 18:15 Uhr komme ich in Hannover an. Ab da übernimmt das Navi meines Telefons und ich gehe zu Fuß 25 Minuten zu meinem Hotel. Gegenüber läuft laut Schlagermusik und es hängt eine Hannover 96 Flagge im Fenster. Ich bekomme Zimmer 19 und schon auf dem Weg nach oben muss ich lachen und denke: Was hab ich da nur wieder getan. Das ganze Ding ist total verranzt. So natürlich auch mein Zimmer. Verranzter Teppich, verranzte Möbel. Wäre es jetzt morgens, würde ich ein anderes Hotel suchen. Aber was soll´s. Billigste Absteige - was hätte ich jetzt auch erwarten können? Ich packe meinen schweren Rucksack aufs Bett und gehe gleich wieder los. Spaziere so ein bisschen umher, durch ein paar Straßen, durch den Prinzengarten und lande rechtzeitig im Kino am Raschplatz, was ich auch auf meinem Was-Will-Ich-Machen-Plan stehen habe. Es läuft Van Gogh.

 

Meine Augen brauchen eine ganze Weile, um sich an diese wackelige Kameraführung zu gewöhnen. Manchmal muss ich weggucken. Es ist ein Liebesfilm.Vincent und die Malerei. Er liebt sie und gleichzeitig macht sie ihn wahnsinnig. Ich bin kein Fan von seinen Bildern, aber ich bewundere seine Leidenschaft. Seinen Willen.

Seine unerschütterliche Zuneigung zu seiner großen Liebe.

 

Nach dem Film hole ich mir fettige Pizza von Pizza Hut und esse sie auf dem Weg ins Hotel. Bin heute fast 15 km gelaufen (da sind zwei Hundespaziergänge am Tage enthalten).

 

Die Party gegenüber ist, als ich die Augen schließe, in vollem Gang, aber ich schlafe dennoch wie ein Murmeltier.

 

Tag 2

 

Um sechs wache ich auf, lese ein bisschen und schlafe wieder ein. Wie toll ist das denn? Zuhause geht so etwas nicht. Um acht schnüre ich meinen Rucksack und mache mich auf den Weg zum Maschsee. Meinen Ursprungsplan, einen Hüpfebus zu nehmen, schmeiße ich über Bord, weil Hannover und ich (und mein Navi) uns orientierungsmäßig super verstehen.

 

Ich halte bei den Göttinger Sieben an und bewundere anschließend das neue Rathaus. Es ist allerschönstes Wetter und ich beschließe, einmal um den Maschsee zu laufen. Ich sehe Entenpärchen, die entspannt durch die Gegend schwimmen. Hinter ihnen fahren öfter Ruderboote vorbei und man hört den Trainer wild umherschreien, dass sie mal schneller machen sollen.

 

Um einfach nur dazusitzen und auf´s Wasser zu starren, mache ich viele Pausen. Danach gehe ich in das Sprengel Museum. Ich bekomme die Eintrittskarte. Entgegen lacht mir Ringelnatz (Ich habe dich so lieb! /Ich würde dir ohne Bedenken / Eine Kachel aus meinem Ofen /Schenken). Er wurde von UMBO fotografiert. Ich mag UMBOs Bilder sehr. Besonders die Fotografien, auf denen niemand in die Kamera sieht.

 

(Kurze Anmerkung: ALLEIN IM MUSEUM, Herrgott, ist das schön! Keiner drängelt, keiner hält auf.)

 

In der anderen Ausstellung stehen große Bilder mit zwei Pinselstrichen. Oder eine in der Mitte gerissene Tapete (oder war es doch eine Leinwand?) und ich frage mich, ob die Leute, die das produziert haben, sich in ihr kreatives Fäustchen lachen. Eine riesige Leinwand mit schwarzer Farbe ist da noch einfallsreich. Schließlich bleibt dem Betrachter ja noch übrig, sich zu denken, was da wohl unter dem Schwarz ist. Ich stehe mit zwei weiteren Leuten davor und wir kratzen uns alle am Kinn. So muss das sein, in einem Museum für moderne Kunst.

 

Als ich eine Nana von Niki de Saint Phalle sehe, rolle ich die Augen. Die Dinger gehen mir fürchterlich auf die Nerven. ABER, OH, da hängen noch drei Skulpturen von der Künstlerin und die finde ich so derart großartig, dass ich da gar nicht wieder wegkomme. Ich stelle fest, dass man aus ausrangiertem Kinderspielzeug jede Menge machen kann. Ich mache keine Fotos, weil das muss man gesehen haben. Direkt davor gestanden.

 

Ich gehe ein bisschen einkaufen, aber es fängt an zu regnen und ich habe keine Lust mehr. Gerade spielt Hannover Fußball und ich will bei McDonalds was bestellen und der Dödel starrt dauernd auf sein Telefon, um seinen Live-Ticker zu aktualisieren. Von eben vorbeigelaufenen Fußgängern weiß ich aber schon, dass das Tor nicht zählt, das weiß er aber noch nicht. Ich kläre ihn auf und bekomme dann endlich mein Essen. Ach, wie widerlich, aber muss jetzt sein. Es ist erst 17 Uhr, aber ich bin so kaputt, dass ich einfach nur liegen will. Mein Rücken schmerzt, ich bin müde.

 

18 Kilometer Fußmarsch waren es heute. Eigentlich wollte ich nochmal ins Kino. „Border“ gucken, aber ich schaffe es nicht mehr. Die Augen fallen zu.

 

Tag 3

 

Nachts wache ich des Öfteren auf, durch Feuerwehrsirenen. Aber das ist ja in Schwanewede auch nicht anders. Dennoch bin ich froh, dass ich die nächste Nacht wieder in meinem kuscheligen Zuhause schlafen darf. Ich gehe halb acht los und frühstücke bei einem Bäcker. Mein Rucksack ist sauschwer, deswegen mache ich auf dem Weg zu den Herrenhäuser Gärten viele Pausen.

 

Auf diese Skulpturen fahre ich ja total ab. Auf spießige Gärten eher nicht so. Nun ja, ich renne dennoch ein paar Stunden dort herum (unter anderem war ich auch in der Grotte von Niki de Saint Phalle, aber da waren nicht so tolle Dinge wie im Sprengelmuseum). Abschließend gehe ich in das Schlossmuseum und bin da auch ganz schnell wieder raus, weil das ganz schrecklich ist. Wie kann man denn so ein Museum so dunkel machen? Und so langweilig? Da ist ja das Fritz-Reuter-Museum in Dömitz eine Achterbahnfahrt gegen! Aber: Eines auf meiner Liste bleibt ja noch. Das deutsche Museum für Karikatur und Zeichenkunst (Wilhelm-Busch-Museum). Und das ist nicht weit entfernt. Ich muss nur ein Stück durch den Georgengarten laufen. Den ich übrigens viel schöner als die Herrenhäuser Gärten finde.

 

Das Museum ist ganz ganz toll. Aktuell werden Zeichnungen aus Kinderbüchern von Hans Traxler ausgestellt. Die gedruckten Bücher liegen als Ansichtsexemplare daneben. Ich lese mir die Bücher nicht durch. Stattdessen sehe ich mir nur die Bilder an und denke mir dazu meine eigene Geschichte aus. Schön auch, dass die Leuchtgans Paula als echte Lampe am Ende der Geschichte steht. Günter Kunert zeichnet die tollsten Katzenbilder (ich schäme mich hierbei für meinen eigenen Versuch an einem Katzenbild, der in einer dunklen Kammer „abhängt“). Und die Krähwinkler – natürlich – großartig!

 

Ich gehe Richtung Bahnhof und mache zwischendurch eine große Pause auf einem Friedhof. Dann hole ich meine Kutte raus und meine Kerzen und...äh...ne Moment, falsches Jahr. Ok, also, ich sitze auf einer Parkbank eines alten Friedhofs und überschlage meine Ausgaben. 185 Euro mit allem. Da bleibt noch Geld für ein Eis, welches ich mir am Hauptbahnhof kaufe, denn, natürlich, die Bahn hat ihre üblichen 20 Minuten Verspätung.

 

Ich bin froh, abends wieder auf meiner Terrasse sitzen zu können und den Vögeln zu lauschen, denn, was gibt es Schöneres, als ein Amselkonzert am Abend. Tschiep tschiep.